Länder, Mexiko, Mexiko, Tagebuch, Touren
Kommentare 2

Ich glaube, ich habe etwas von Mexiko verstanden.

Wir hatten ja schon kurz berichtet, dass uns seit unserer Abfahrt aus Pueblo immer wieder und immer häufiger Radfahrergruppen begegneten, teils mit enormen Paketen auf dem Rücken. Diese bestehen aus in Folie eingewickelten Bilderrahmen, kleinen und großen Figuren der Virgen de Guadalupe. Die Jungs schleppen bis zu 40 kg, manche Statuen sind fast lebensgroß. Bei den ersten zwei dachten wir noch, sie wollten sie irgendwo verkaufen. Schnell wurde uns klar, dass es Pilger sind. Wir fuhren in die gleiche Richtung und meistens überholten wir sie. In der letzten Woche kamen immer mehr Läuferstaffelgruppen dazu. Die Einzeletappen der Läufer und Läuferinnen waren relativ kurz, manche liefen mit Flipflops, manche sogar barfuß. Meistens trugen sie Fackeln. Was uns irritierte, die Radler kamen uns in letzter Zeit auch entgegen. Unsere erste Hypothese, die Leute radeln von Ciudad Mexico in ihre Heimatstadt, war damit hinfällig. Also vielleicht Partnerstädte, Schwestergemeinden etc., denen man damit Geburtstagsgrüße sendet. Oder sie fahren einfach Rundkurse durch z.B. Yucatan.

Es stellte sich eine besondere Stimmung auf der Straße ein. Ihr kennt das vom 1.Mai oder Himmelsfahrt, oder auch bei der Anfahrt zu jährlichen Festivals. Wir fühlten uns ein bisschen miteinbezogen und fuhren abends immer als erstes im Zielort auf den Zocalo, den Hauptplatz, der auf der einen Seite gesäumt ist von der Kirche, auf der anderen vom Rathaus. Dort trafen wir an der Kirche die Radler, die ringsum lagerten und versorgt wurden. Und die Kirchen waren so gut gefüllt bei den abendlichen Gottesdiensten, dass deutsche Pastoren und Pfarrer vor Neid erblassen würden. Ach ja, ein wichtiges Detail, woran man die Pilgergruppen schon von weitem erkennen kann: Sirenen und Tröten, die den Polizei- und Krankenwagensirenen täuschend ähneln. Damit wird gegrüßt, die Ankunft und Abfahrt in einer Stadt begleitet, oder auch bei Nachtfahrten mit Rödellampen ums Überleben auf der Straße gekämpft.

Die Fahrräder sind teilweise abenteuerlich ausgestattet. Obstkisten die vorrangige Form für den Transport der Decke, des Ersatz-shirts (falls vorhanden), Wasserflasche und häufig der Lautsprecherbox. Manchmal sitzen auch kleine Kinder drin.

Heute sind wir also in Campeche und wollten wissen, was nun zu den Feierlichkeiten rings um den 12.12. hier passiert. In einer kleinen Kirche, die der Virgen de Guadalupe gewidmet ist, haben wir das Pilgerlager gefunden, nicht wie gedacht in der großen Kirche im Centro historico mit den Touristen.

Und ich bin ziemlich heftig berührt worden von dem, was wir da erleben durften. Die Kirche, sehr einfach, außen bunte Wimpelfahnen, lagernde Gruppen, kleine Devotionalienstände, innen wunderbar geschmückt mit einem Blumenmeer (nicht ganz so verschwenderisch wie die große Kirche). Wir setzten uns rein, um die Atmosphäre zu erfassen ohne nicht störend zu wirken. Die Gruppen kamen rein, gingen nach vorne, stellten ihre Pakete ab und dann nahmen sie sich ihre Zeit, um entweder zu singen, Musik zu machen, laut im Wechselgespräch zu beten, ein Licht anzuzünden… Und ich hatte den Eindruck nicht als Bittende, Demütige, Hilfesuchende, sondern eher als würdigende Geburtstagsgäste, die Ehre erweisen. Eine Gruppe nach der anderen, teilweise auch Großfamilien, die mit Kind und Kegel gekommen sind. Bei weitem nicht alle mit dem Rad, sondern auch mit dem Auto, zu Fuß, mit dem Moped, dem LKW, Tuktuks, egal wie.

Und das hat mich plötzlich überwältigt. Diese Virgen de Guadalupe, die einem Indio erschienen sei und ihm gesagt habe, die Mexikaner seinen ein von Gott auserwähltes Volk, hat anscheinend eine unglaubliche Identifikationskraft. Als wir das erste mal die Beschreibung der Symbolik der Darstellung gehört haben, fanden wir es etwas hergeholt und übertrieben, all das darin zu erkennen. Jetzt sehe ich das anders. Gerade die Integration der alten mythischen Vorstellungen in die Erscheinung, die Betonung, dass die Jungfrau mexikanisch aussah, der Auserwählungsgedanke, geben vielleicht einem Schmelztiegelmultiethnienvolk einen sinnstiftenden Überbau, Selbstbewusstsein und Integrationskraft. Meine Idee: Junge Männer, die bereit sind, über 2.000 km 40 kg auf dem Rücken als Gruppenerlebnis und deutliches Signal durch Mexiko zu tragen, erleben Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit. Und das ist vielleicht etwas, was sie trägt.

Klaro betrifft das nur einen Bruchteil der Menschen hier. Aber auch wenn nur „wenige“ Promille unterwegs sind, sie erhalten überall wohlwollende Anerkennung, Unterstützung und tragen (meine Meinung) zu einer Selbstbestätigung und Manifestation einer umfassenden sinnstiftenden Idee bei. Wer z.B. nicht mehr selbst pilgern kann, sie reden eher von “Versprechen”, das sie einhalten, der öffnet sein Haus oder versorgt die Pilgernden mit Essen.  Dabei scheint das Gemeinschaftserlebnis beim Pilgern ein wichtiges Element zu sein, anders als bei uns. Wer bei uns pilgert sucht oft das Zwiegespräch mit sich selbst, die Stille, Meditation beim Gehen etc. Das gibt es hier sicher auch, aber anscheinend sind andere Elemente vorrangig.

Es scheint allerdings tatsächlich mehr in ländlichen Regionen wichtig zu sein. Für “moderne” MexikanerInnen in den Städten sei es eher eine Tradition, die man belächelt oder auch abwertet.

Ein Lied wird immer wieder gesungen, ein Ohrwurm. Wir haben ihn samt Text gefunden. hier der link:  https://www.youtube.com/watch?v=vkwuzOtiink 

und die Übersetzung: https://lyricstranslate.com/en/la-guadalupana-die-jungfrau-von-guadalupe.html

Das ist es, was ich glaube verstanden zu haben. Und vielleicht liege ich damit auch völlig falsch.

 

 

 

2 Kommentare

  1. Hallo liebe Weltradler,

    heute Abend komme ich endlich mal dazu, Eure interessanten Erlebnisse zu studieren.
    Dieser aktuelle Bericht erinnert mich an meine damalige Spanisch-Lehrerin, die uns neben Sprachkenntnissen auch viele Eindrücke der mexikanischen Kultur und mexikanischer Bräuche näher brachte. Im Kern ist das speziell auch der Umgang der Menschen miteinander, der in vielen Aspekten nachahmenswert ist.
    Ich wünsche Euch ein beschauliches Weihnachtsfest, einen guten Start ins Neue Jahr und bei Euren spannenden Touren immer einen Schutzengel in Reichweite?

    Herzliche Grüße,

    Christian Hillmer

  2. Andreas Spalinger sagt

    Liebe Radler,
    vielen herzlichen Dank für die bunten Bilder aus Mexico und die immer spannenden Berichte. Kompliment!

    Ich wünsche allzeit gute Fahrt sowie frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr!
    (Feliz Navidad y Próspero Año Nuevo)

    Andreas Spalinger (aus Wolfsburg)

Schreibe einen Kommentar zu Andreas Spalinger Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert