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Grenzerfahrungen: Das Land der Gegensätze

Ein Thema unserer Reise ist ja auch das „Erfahren“ unserer Grenzen. Da haben wir so einige gefunden: in Turkmenistan die Hitze, auf dem Pamir-Highway die dünne Luft in der Höhe und die schlechten Straßen, im Iran die Einschränkungen durch religiöse (Bekleidungs-) Regeln, besonders für Karin.
In Indien scheint die Aufgabe zu sein zu lernen, die extremen Gegensätze auszuhalten, besonders den zwischen arm und reich, wobei man die Reichen nicht sieht. Wir wissen aber, dass ein paar Dutzend Familien mit vielleicht 2000 Mitgliedern 70% des indischen Privatvermögens halten, während viele hundert Millionen in Wellblechhütten und Zelten aus Plastikplanen hausen und keine realistische Chance haben, da jemals rauszukommen. Und der Müll: es gibt wunderbare Landschaften ohne auch nur eine herumliegende Plastikflasche und Dörfer, die eine einzige Müllhalde sind, auf der Menschen, Hunde, Kühe und Schweine leben. Was kann der Mensch eigentlich alles ertragen?

Luxus und Wellblechhütten

Eine weitere Aufgabe könnte es sein, die unterschiedlichen Erfahrungen mit den Menschen hier aufzunehmen und nebeneinander stehen zu lassen. Wir hatten bisher schon einige sehr intensive positive Begegnungen, mit z.B. einer hinduistischen Bauernfamilie, einem (seit 7 Jahren in Indien) radelnden Muslim, mit einem älteren erfolgreichen Sikh (Hotelbesitzer) und zwei jüngeren sehr frustrierten Sikhs, die jeweils einige Jahre im Ausland gelebt hatten und wegen der Familie zurückgekommen sind. Beide sind der Meinung, man könne in Indien dieses Elend nicht mehr ertragen, wenn man das Leben im westlich geprägten Ausland kennengelernt habe.
Der Müll ist in Indien ein Hauptthema. Müll wird oft einfach auf die Straße geworfen. Irgendjemand kehrt das vielleicht zusammen und fackelt es ab. Flüsse, von Hindus als heilig angesehen, sind manchmal piksauber, manchmal aber auch vollkommen vermüllt. Andererseits werden diese PET-Getränkeflaschen oft von Lastenrikschafahrern gesammelt und einer Mülltrennung zugeführt. Manchmal leben neben Müllhalden Menschen in Blechhütten und sammeln Verwertbares in großen Haufen: Metall, Glas, Gummi, Plastik, PET. Wenn wir abends unsere Unterkunft aufsuchen, sind die Straßen meist voll von Müll, der dann morgens weg ist und die Straße perfekt gefegt! Wir haben nicht recht verstanden, wann das wie und durch wen erledigt wird. Abends sieht es dann wieder aus wie am Vortag.

Idylle und Müll

Und wir haben ein paar unangenehme Erfahrungen gemacht, z.T. auf der Straße beim Radeln- sehr distanzlose und hartnäckige Moped- oder Autofahrer, die einfach neben uns herfahren und starren, einmal kilometerlang. Das fühlte sich schon fast bedrohlich an. Und manchmal in Hotels, wenn wir nach einem Zimmer fragen. Mal werden Fantasiepreise verlangt, mal wird behauptet, es sei ausgebucht, obwohl alles leer scheint. Eine gewisse Gleichgültigkeit scheint es, sicher nicht auf uns persönlich gemünzt, sondern vielleicht eine indische Eigenschaft, die für uns eine Herausforderung darstellt.

Mittelklasse-Hotel und Absteige

Die Menschenmassen in den Städten haben wir schon oft beschrieben. Das ist nichts für Leute mit Platzangst. Es gibt aber auch dünn besiedelte Landschaften mit Dörfern, die beinahe verlassen wirken. In manchen Regionen sind die Menschen zudringlich und neugierig, dass es einem auf die Nerven geht, aber in anderen (zum Beispiel Manipur) finden wir höfliches Interesse ohne dass man uns zu nahe kommt. Manchmal können wir kaum nachvollziehen, was in den Menschen so vorgeht. In anderen Fällen fühlt sich das Gespräch an wie wir das in Mitteleuropa auch gewohnt sind.

Menschenmassen und Einsamkeit

Auf der Landkarte gleich ausgewiesene Hauptverkehrsstraßen können vierspurig, kaum befahren und perfekt, aber auch vollkommen zerstört und nicht nur für Fahrräder fast unpassierbar sein.

Perfekte und vollkommen zerstörte Straßen

Ackerbau kann direkt nebeneinander mit modernsten Maschinen oder mit dem Ochsen vor dem Pflug stattfinden. Die Spreu wird vom Reis meistens mithilfe des Windes getrennt.

Ackerbau

Tiere werden in Indien meistens in Ruhe gelassen. Das heißt aber nicht, dass es ihnen immer gut geht. Kühe als heilige Tiere werden (in den meisten Staaten) nicht geschlachtet, aber nach der landwirtschaftlichen Nutzung einfach laufen gelassen, leben dann oft von Müll und haben eine geringe Lebenserwartung. Manchmal gibt es auch ganz unheilige Prügel. Freilebende Hunde werden oft nebenbei gefüttert (gutes Karma), sind aber sehr häufig verkrüppelt, räudig und unterernährt. Schweine werden nur in den christlichen Gegenden gezielt gehalten, laufen aber in vielen Dörfern und Städten unbehelligt herum, finden reichlich zu fressen und vermehren sich ohne natürliche Feinde ganz famos. Am schlimmsten ist aber Geflügel dran, vor allem die “Chicken”.

Tiere

Es wird immer gesagt, Indien lasse niemanden kalt, Indien polarisiere. Dem ist so. Diese krassen Gegensätze verlangen uns einiges ab.
Vor allen in den stark bevölkerten Staaten wie Utha Pradesh mit Varanassi als Kulminationspunkt, merkten wir, dass wir dünnhäutiger wurden und gleichzeitig dickfelliger. Und wir waren froh, nach Nepal zu kommen. Yonathan, der Israeli, zeigte uns eine ganz andere Art, mit Indern umzugehen. Das war faszinierend, entspannend und er hatte Erklärungen für indisches Verhalten, die uns zuversichtlich stimmten, als wir wieder nach Indien kamen. Vielleicht würden wir auch gelassener reagieren können. Nun teilweise gelang es. Und seit wir zu dritt sind, ist es noch ein wenig besser geworden.

Ich (Karin) habe inzwischen gelernt, mit einer Haltung zwischen Arroganz und Ignoranz auch eine halbe Stunde bei den Rädern zu bleiben, wenn Fritz und Patrik auf Hotelsuche sind, umgeben von 20-30 Männern, die um mich herumstehen und beobachten. Ich habe gelernt, sobald ich Blickkontakt aufnehme, fühlt sich der Andere aufgefordert näherzukommen und mich anzusprechen. Sobald einer mich anspricht und ich reagiere, schließt sich Kreis sehr eng um mich und die Räder und weitere kommen dazu. Also vermeide ich Blickkontakt, schaue mir interessiert den Verkehr und die Gegend an, behalte dabei die Räder scharf im Blick, und reagiere sehr sparsam: „Please don´t touch“ wenn jemand an die Räder greift oder antworte freundlich aber ebenfalls eher mundfaul auf Fragen nach dem woher. So geht es. Und dennoch ist es anstrengend. Und mit der Zeit macht uns Indien wieder härter, manchmal zynisch, arrogant. Es fällt verdammt schwer eine empathisch akzeptierende Haltung zu bewahren während dein Hirn und Herz bestenfalls verwirrt, oft verstört oder auch empört ist.
Wir sind jetzt, nach fast 3 Monaten indischer Kultur, einfach reif für Neues. Obwohl wir gerade die letzten 2 Wochen als bereichernd empfunden haben- Meghalay und vor allem Manipur haben unseren Blick nochmals erweitert- wird die Haut wieder dünner und das Fell dicker.
Indien führt uns auch an die Grenzen unserer Haltungs- und Verhaltensmöglichkeiten und kratzt dabei empfindlich an unserem Selbstbild.